Unbekannte Frauen by Patrick Modiano

Unbekannte Frauen by Patrick Modiano

Autor:Patrick Modiano [Modiano, Patrick]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-11-23T05:00:00+00:00


3

Wahrscheinlich habe ich viele Einzelheiten vergessen, aber wenn ich an jene Zeit zurückdenke, höre ich noch das Klappern der Hufe.

Ich war im Januar in Paris eingetroffen, mit neunzehn Jahren. Ich kam aus London. Ein Österreicher, dem ich im Herbst davor in Notting Hill begegnet war, hatte mir den Schlüssel seines Ateliers in Paris anvertraut. Er wollte für längere Zeit nach Mallorca fahren, und es war ihm lieber, wenn während seiner Abwesenheit jemand in dem Atelier wohnte. Ich hatte seinen Vorschlag angenommen.

Ich kannte das Viertel, in das ich gehen sollte, überhaupt nicht. Ich mußte in die Rue Chauvelot, in der Nähe der Metrostation Porte-de-Vanves. Das große Glasfenster des Ateliers ging auf einen kleinen Garten und ein Häuschen, die verwahrlost wirkten. Als ich auf einmal allein dort stand, fragte ich mich, ob ich es hier aushalten würde. Ich hatte London aus einer plötzlichen Anwandlung heraus verlassen, weil nichts mehr mich dort festhielt. Und hier in Paris, in diesem unbekannten Viertel, war ich abgeschnitten von der Welt.

In der ersten Nacht im Atelier brauchte ich lange, bis ich einschlafen konnte. Alles war still, so als ob in dem Gebäude niemand wohnte. Sehr früh am Morgen bin ich durch das Klappern der Hufe geweckt worden. Ich sagte mir, daß da sicher ein Kavallerieregiment ganz in der Nähe über den Boulevard ritt.

In jener letzten Januarwoche war das Wetter schön, der Himmel von zartem Blau. Ein Tag nach dem anderen verging unter demselben blauen Himmel und derselben Sonne. Ich besaß noch zweitausend Franc von dem Geld, das ich bekommen hatte, als ich bei Barker’s entlassen worden war. Damit konnte ich einen Monat durchhalten, anschließend würde ich nach London zurückmüssen.

Zwei oder drei Tage nach meiner Ankunft hat morgens gegen elf das Telephon geklingelt. Ich war gerade erst wach geworden. Eine Frauenstimme hat nach Georg Cramer gefragt, so hieß der Österreicher. Ich sagte, er sei verreist. Schweigen. Dann hat die Frau mich gefragt, wer ich sei. Ich sagte, ich würde während der Abwesenheit des Österreichers das Atelier hüten. Sie hinterließ ihren Namen und ihre Telephonnummer, damit ich sie ihm weitergab, falls er sich bei mir melden sollte. Sie würde auf jeden Fall innerhalb der nächsten Wochen wieder anrufen.

Ich dachte mir, daß dieses Telephon auf dem Nachttisch nutzlos war. Ich hatte Frankreich vor zu langer Zeit verlassen, um mich noch irgendwem wieder in Erinnerung zu bringen. Auch wenn ich noch so sehr überlegte, wen ich anrufen könnte, nein, da war niemand. Nichts würde den Lauf meiner Tage hier stören. Doch ab sechs Uhr abends wurde meine Beklemmung so groß, daß ich mir am Ende sagen mußte: Ich kann immer noch die Frau anrufen, die mir ihre Nummer hinterlassen hat. Ich hatte sie auf einen Zettel geschrieben und in die Schublade des Nachttischs gelegt. Ich zog die Lade auf. Ich las die Nummer. Auteuil 15–28. Ich kannte sie auswendig. Und vielleicht würde ja auch Georg Cramer anrufen und fragen, ob alles in Ordnung war. Und die Frau hatte gesagt, sie würde sich wieder melden. Ich konnte mich wirklich nicht beklagen.

Am frühen Nachmittag nahm ich die Metro an der Station Porte-de-Vanves und stieg in Montparnasse aus.



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